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Charmantes Chaos

Trotz Streik kamen wir fast pünktlich in Neapel an – bei überaus klarer Sicht während des ganzen Fluges. Ganz so klar ging es beim Aufsuchen des Quartiers mitten im historischen Zentrum durch gesperrte Straßen zwar nicht mehr zu, aber letztendlich trafen wir dann doch in unserem Nest mit schöner Dachterrasse ein. Unsere sehr freundliche und hilfsbereite Vermieterin sprach nur italienisch und redete immer so lange auf mich ein, bis ich sie verstanden habe, auch wenn ich eigentlich so gut wie gar nicht die italienische Sprache verstehe. (Halt ein paar Brocken. Nur bei allem, was Essen betrifft, sieht es etwas besser aus.)

Durch die optimale Lage unserer Unterkunft waren wir mitten drin in Neapel, im dunklen engen Gassengewirr, durch das sich auch in den engsten Gassen noch der Verkehr schlängelt, die obligatorische Wäsche kreuz und quer darüber flattert und sich in jeder Nische ein Heiligenschrein befindet. Bassi, die Erdgeschosswohnungen, die nur durch eine einfache Tür vom Straßenverkehr abgetrennt sind, prägen die Altstadtviertel. Meist stehen die Türen offen und man schaut direkt in die Küche, ins Wohn- oder Schlafzimmer, was manchmal alles ein und dasselbe ist. Gleich um die nächste Ecke befinden sich dann wiederum Prachtbauten, Kirchen oder Palazzi, die im starken Kontrast zur Armut stehen. Gleich ein paar Schritte weiter befindet sich auch die prunkvolle Kathedrale von Neapel, in der zweimal jährlich das Blutwunder stattfindet.

Glaube und Aberglaube liegen in Neapel dicht beieinander – an den Souvenirständen sieht man nicht nur haufenweise die Cornicelli gegen den bösen Blick, sondern sehr oft auch Miniaturschädel, denn der Schädelkult L’anima pezzentella ist hier trotz Verbot immer noch sehr lebendig. Schädel werden sozusagen adoptiert und gepflegt und erhalten Geschenke –im Ausgleich helfen einem dann auch die Toten weiter. In der Krypta der Kirche Santa Maria delle Anime del Purgatorio ad Arco und vor allem im unterirdischen Friedhof Cimitero delle Fontanelle kann man sich davon überzeugen. Neben Münzen finden sich beispielsweise auch Fahrscheine oder Lippenstifte.

Allgemein ist der Untergrund von Neapel sehr interessant. Nicht nur, weil man dort noch besser als in den Gassen der Hitze entkommen kann, sondern weil es neben Schädeln noch sehr viel mehr zu entdecken gibt. Neapel existiert unterirdisch quasi noch einmal. Dort unten befinden sich ein endlose Gängesysteme mit Katakomben, schmalen, sehr schmalen oder sehr niedrigen Gängen. Hinterlassenschaften aus griechischer und römischer Zeit, aber auch Zeugnisse aus der Zeit des 2. Weltkrieges, als ganz Neapel im Untergrund Zuflucht suchte. Wir nahmen an einigen sehr spannenden Führungen teil. Neben dem historischen Untergrund ist auch der neuzeitliche sehenswert, denn ein großer Teil der U-Bahn-Stationen der Linie 1 sind künstlerisch und architektonisch herausragend gestaltet.

Oberirdisch hat Neapel allerdings ebenfalls sehr viel Sehenswertes zu bieten. Sehr beieindruckend fand ich beispielsweise die Marmorskulpturen in der Cappella Sansevero, deren Feinheit in der Bearbeitung unglaublich ist, zudem gibt es dort auch noch zwei sehr interessante anatomische Modelle zu sehen. Fotos konnte man dort (wie auch an einigen anderen Orten) leider nicht machen. Lohnenswert ist ebenfalls das Hermann-Witsch-Museum – da geht es dann auch gleich wieder blutiger zu. Einen sehr entspannten Aufenthalt bietet der Kreuzgang Chiostro delle Maioliche. Neben dem Verkehrschaos ist Neapel nämlich auch sehr laut. Und das nicht nur tagsüber, denn die Neapolitaner lieben Feuerwerk. Das wusste ich zwar durch die Lektüre von Elena Ferrante schon vorher, aber nicht, dass das heißt, dass es jede Nacht mindestens zwei, drei Feuerwerke gibt. Da würde man gar nicht mitbekommen, wenn der Vesuv ausbrechen würde.

Außer in den engen Gassen kann man den Vesuv fast überall sehen. Am schönsten ist der Blick darauf von einem höher gelegenen Standort (z. B. Posillipo), von wo aus man zudem die ganze Stadt und Bucht überblicken kann. So allgegenwärtig wie er ist vergisst man die Gefährlichkeit dieses Vulkans. Im Historischen Nationalmuseum wird die Zeit seines bekanntesten Ausbruchs sehr lebendig. Beispielsweise feinste Glasarbeiten sind von Pompeji erhalten geblieben als auch eine Menge obszöner Graffiti. Das damalige Leben wird einem auch heutzutage dadurch sehr lebendig. Direkt vor Ort begreift man es noch viel besser. Wir haben uns fast einen ganzen Tag Zeit genommen, um Pompeji zu erkunden. Es ist faszinierend wie gut beispielsweise noch einige Wandmalereien erhalten sind. Dem Verursacher des Untergangs von Pompeji musste trotz Höhenangst auch noch unbedingt ein Besuch abgestattet werden. Das war schon eine ziemliche Herausforderung für mich und im Nachhinein kommt es mir ganz unwirklich vor, dass ich da oben am Kraterrand gestanden habe.

Weitere Ausflüge führten uns jeweils für einen Tag nach Ischia und Procida. Der Hauptort von Ischia wirkte durch seine sehr stark touristische Ausgerichtetheit nicht sehr sympathisch auf mich. Am Marontistarnd (von dem ich ja nun so viel durch Elena Ferrante gelesen hatte) verbrachten wir dann einen entspannten Strandtag, d. h. ich war eigentlich mehr im Wasser zu finden. Procida entsprach gegenüber Ischia schon viel mehr meinem Geschmack. Von der Ursprünglichkeit dieser kleinen Fischerinsel ist doch noch viel mehr erhalten geblieben. Das Wetter blieb uns am Tag des Besuchen leider nicht erhalten, so dass das gleichfalls geplante faule Strandleben durch mehr Wanderungen ersetzt wurde.

Neben den beschriebenen Besichtigungen, ist natürlich ein Hauptgrund, um nach Neapel zu fahren, das Essen. Nachvollziehbarerweise schmeckt die Pizza nirgendwo besser. Die verschiedenen Pastavariationen sind ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Und ganz wichtig ist auch alles, was aus dem Meer kommt. Es ist einfach eine unbeschreibliche Freude, auf einem Markt in Neapel einkaufen zu gehen. Neben dem beeindruckenden Angebot aus dem Meer, sollte man aber auch die Augen offen halten für die Gaben der Erde, die gleichfalls sehr vielfältig sind. Unvergesslich sind die Aromen der Tomatensorten, aber auch eher unscheinbares wie Friarielli sollte man sich nicht entgehen lassen. Vor der Rückreise machte ich dementsprechend noch einmal einen Großeinkauf.

Auch wenn wir doch nicht gerade wenig Zeit hatten, verging die Zeit viel zu schnell. Durch das Gassengewirr hätte ich noch ewig schlendern können. Hier und dort eine Pizza essen. Dann und wann einen Markt aufsuchen. Mir überlegen, ob ich nicht einen Schädel adoptieren sollte. Und ab und zu einen Tag mit Baden im glasklaren Mittelmehr einplanen. Das Chaotische finde ich eigentlich überhaupt nicht störend – ganz im Gegenteil – erst dadurch spürt man erst, wie das Leben hier pulsiert. Der Lärm ist jedoch schon gewöhnungsbedürftig. Das Müllproblem scheint in Neapel der Vergangenheit anzugehören – inzwischen ist alles immer sehr sauber. Mit anderen Worten spricht fast nichts dagegen, noch einmal nach Neapel zu reisen.



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C. Araxe - 2017.06.11, 14:00








































































bonanzaMARGOT - 2017.06.13, 06:03

sehr schön - wenn auch etwas viele totenschädel.

wie sind denn so die preise in neapel?
Finchen1976 - 2017.06.13, 06:52

Sensationelle Fotos!!! Und Ihre vorherige Beschreibung war so gut, dass die Fotos nur meine Vorstellung bestätigten. :-))) Toll!!!
C. Araxe - 2017.06.13, 15:20

@Herr bonanzaMARGOT
So viele Totenschädel sind das doch gar nicht. Also ich hätte da noch viel mehr.

Was die Preise betrifft, kommt es darauf an, für was alles. Eine einfache Pizza Napoletana gibt es in der Pizzeria schon oft für 4 Euro. Frischgefangener Fisch etc., heimisches Obst und Gemüse sind meist günstiger als hier. Milch- und Fleischprodukte sind mindestens genauso teuer, oft auch teurer. Tickets für den ÖPNV sind extrem günstig.

@Frau Finchen1976
Schön, dass das so gut passr. :-)
bonanzaMARGOT - 2017.06.14, 05:17

klingt erschwinglich. und die getränke: birra, vino...?
C. Araxe - 2017.06.14, 16:54

Kommt darauf an, wo und was man trinkt. Bier ist meist etwas teurer (egal ob Lokalität oder Supermarkt, auch einheimische Marken). Wein ist günstiger bis genauso teuer.
Treibgut - 2017.07.10, 21:42

Neapel

Schöner Bericht, sollte ich vielleicht auch mal besuchen.

Die Photos kontrastieren mit dem "pulsierenden Leben". Die entseelten Köpfe gefallen mir natürlich.
C. Araxe - 2017.07.11, 22:12

Tja, was die Fotos betrifft. Ich habe mich zuvor eigentlich immer mehr den ruhigen Gebieten hingezogen gefühlt. X Reisen nach Irland beispielsweise oder Skandinavien. Inzwischen bin ich auch von südlicheren Landstrichen beeindruckt. Einerseits vom „pulsierenden Leben”, andererseits eben auch davon, dass man auch dort Ruhe finden kann und eben auch „der Tod” präsenter ist als man vielleicht meint.
bonanzaMARGOT - 2017.06.13, 06:01

und jetzt habe ich appetit auf pizza.

C. Araxe - 2017.06.13, 15:20

Der beste Ort, diesem Appetit nachzugehen, ist da eindeutig Neapel!